Ich liebe Prosa, ich lese Prosa, ich schreibe (wenn ich schreibe) Prosa. Lyrik findet sich in meinem Bücherschrank nur ganz, ganz vereinzelt. Und dennoch sind die wichtigsten Eckpunkte meines Lebens mit Lyrik oder einer zumindest vergleichbaren literarischen Kurzform verknüpft. Mein Taufspruch, der Spruch zu meinem Abitur, meine Lieblingsgedichte „Die Rose“ von E. Roth und „Stufen“ von H. Hesse und immer wieder mit Haikus. Meine Mutschka liebt diese Lyrikform und hat viele davon geschrieben. So hat jede meiner Töchter ein eigenes Haiku zur Geburt von ihr bekommen und es ist verblüffend, wie genau die Mentalität des Haikus zur Mentalität des Kindes passt (oder umgekehrt?).
Haikus liebe ich, weil sie keiner Interpretation bedürfen. Man muss nicht daran herumdeuten, nichts erklären. Sie dringen über einen unsichtbaren Pfad direkt zu unserer Seele vor, wir fühlen mehr, als das wir wissen. Das Haiku erzählt in den paar Silben eine ganze Geschichte, erklärt uns das Universum und schildert doch nur einen winzigen Moment, die unendliche Ewigkeit im veränderlichen Augenblick UND der scheinbare Stillstand im Moment in der sich ständig verändernden Ewigkeit. Die perfekte Symbiose – die Erklärung von Raum und Zeit, dem Leben, von allem.
Ein Haiku, der mich von Kindertagen begleitet, ist:
Um mein Brunnenseil
rankt eine Winde sich
gib mir Wasser, Freund
(Autor: verschiedene Angaben (Dame) Kaga no Chiyo (1701 – 1775) / (Frau ) Chiyo-ni (1703 – 1775))
Über Ostern gab es Zeit und Raum für eine kleine Lesepause und irgendwie landete ich bei Siebzehn Silben Ewigkeit von Denis Thérilaut. Es passte zu meiner Stimmung, und wieder einmal bin ich versunken in diesem wunderbaren Text. Ein kurzer Roman über einen Postboten, nein Briefträger trifft es besser, der anstelle eines Verstorbenen anonym in eine Brieffreundschaft einsteigt, einen Briefwechsel zwischen Kanada und Guadeloupe, der ausschließlich aus Haikus besteht. Wer mag, kann den Inhalt gerne im Internet (Link s.o.) nachlesen.
Für mich ist nicht die eigentlich erzählte Geschichte wichtig, sondern die wunderbare Art und Weise, WIE Thériault sie erzählt. Ja, es ist (auch) eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen. Aber für mich ist es eine Liebeserklärung an das Haiku, an das geschriebene Wort überhaupt.
In dem ganzen Buch gibt es nur einen einzigen Dialog und in diesem Dialog wird grob gestritten, das Leben Bilodos nimmt seine dramatischste Wendung. Das gesprochene Wort als scharfes Messer, als rüde Waffe, als Verletzung. Unweigerlich muss ich an Ina Seidels Warnung in „Der Wortes Gewalt“ denken: „Im Wort ruht Gewalt wie … im Pfeil, der trifft“.
Der ganze restliche Text beschreibt, erzählt, malt sanft Bilder in unsere Seele. Nicht, dass es nur Romantisches oder Leichtes zu erzählen gäbe. Aber die Worte gehen vorsichtig, behutsam mit uns um. Jedes scheint sorgfältig gesetzt, keines zufällig. Und alle Bilder passen zusammen: Bilodo ist Briefträger, er lebt von den tatsächlich geschriebenen Worten. Sein Hobby ist die Kalligraphie, die Kunst des schönen Schreibens. In der zwischenmenschlichen Kommunikation ist er unbeholfen, ungeschickt. Es sei denn, er schreibt.
Ein einziges gesprochenes Wort im Text ist sanft: „Enso“ – der Kreis. Es ist Bilodos letztes gesprochenes Wort und gleichzeitig ist es die Zusammenfassung seines Lebens und der erzählten Geschichte. In einem einzigen Wort.
„Enso“ ist ein Symbol aus der japanischen Kalligraphie und steht für Erleuchtung, das Universum, die Leere, die Ästhetik des Augenblickes. All die Dinge, die uns auch ein Haiku in seinen siebzehn Silben vermitteln möchte. Das Ziel eines jeden Meditierenden im Buddhismus. Die Antwort auf alle Fragen und die Frage zu allen Antworten.
Und der Grund, warum ich diesen Text so mag. Ich muss den Inhalt nicht erzählen, ich muss ihn nicht interpretieren, ich brauche nur das Lesegefühl in meine Seele zu lassen.
Meine drei Lieblings-Haikus aus dem Buch möchte ich Euch nicht vorenthalten:
Regentropfen auf dem Blatt
für Marienkäfer
die Katastrophe
Riesige Rücken
wühlen das Meer auf
die Pottwale tummeln sich
UND !!!
So wie das Wasser
den Felsen umspült
verläuft die Zeit in Schleifen
Dieses Haiku hat durchaus Chancen, meine neue Nummer Eins zu werden. Wie ist es mit Euch? Noch jemand hier, der Haikus mag? Oder sagen sie Euch eher nix?
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